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Matthias Claudius: „Die Sternseherin“


 

 

 

 

Ich sehe oft um Mitternacht, wenn ich mein Werk getan
und niemand mehr im Hause wacht, die Stern`am Himmel an.

Sie stehen da wie hingestreut als Lämmer auf der Flur;
in Rudeln auch und aufgereiht, wie Perlen an der Schnur.

Und funkeln alle weit und breit und funkeln rein und schön;
ich seh` die große Herrlichkeit und kann mich satt nicht seh‘ n…

Dann saget, unterm Himmelszelt, mein Herz mir in der Brust:
„Es gibt was Bessers auf der Welt als all ihr Schmerz und Lust.“

Ich werf mich auf mein Lager hin und liege lange wach
und suche es in meinem Sinn und sehne mich darnach.

(Matthias Claudius, 1740-1815)

                                            ***                              

image: pixabay

(v.k.)

Rainer Maria Rilke: „Herbst“

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

                                   ***

(v.k.)

Was uns nicht berührt…

Was uns nicht berührt, verwandelt uns nicht 

Eindrücke und Berührungen sind mannigfaltig und sprechen uns über unsere fünf Sinne an. Einen Teil davon erfahren wir über optische Wahrnehmungen, Beobachtungen, Bilder und Metapher. In meiner Collage oben spricht uns jedes Einzelbild auf seine eigene Art an (oder auch nicht an) und vermittelt Berührtsein in ganz unterschiedlicher, subjektiver Form und Intensität.

So stehen von links oben beginnend und im Uhrzeigersinn betrachtet die 11 Einzelbilder z.B. für Ergriffenheit und menschliche Wärme, für den berühmten Aha-Effekt, für Größe und Unendlichkeit, für Loslassen und Entspannung, für Schönheit und Stille, für Kindlichkeit und Staunen, für Nachdenklichkeit und Entschluß, für Sinnlichkeit und Faszination, für Aufbruch und Unruhe, für Liebe und Mütterlichkeit und letztendlich für Natur und Faszination.

Diese Zuordnungen gelten für mich persönlich, andere generieren aus diesen Bildern möglicherweise ähnliche oder auch völlig andere Wahrnehmungen. Aber eines gilt für alle Betrachter: Nur ein Teil dieser Bilder geht uns wirklich nahe und „unter die Haut“: Nur einem kleinen Teil dieser bildhaften Berührungen gewähren wir wirklich Zugang zu unserer Seele…

„Was uns nicht berührt, verwandelt uns nicht“ ist ein Zitat von Carl-Gustav Jung, Begründer der analytischen Psychologie

(v.k.)

Der Film des Lebens

Der Film des Lebens…

Hör‘, was geheime Wissenschaft verkündet:
In jenem allerletzten Augenblick,
Wo sich dein Geistiges vom Körper trennt
Und in das Ätherreich des Ew`gen mündet.
Wo es den Schmerz der Zeit nicht kennt –
In jenem allerletzten Augenblick
Rollt sich dir magisch mit Sekundenschnelle,
Volldeutlich bildhaft und in Farbenhelle
Noch einmal ab dein irdisches Geschick!
Du siehst auf Mutter und Geburt zurück
Und siehst in langer, wechselvoller Reihe,
Seltsam umschauert von der letzten Weihe,
All das, was dir vergönnt war, durchzuleben!
Du siehst Geschehenes vorüberschweben,
Liebe und Haß, Gewalt’ges und Gemeines,
Glück, Unglück, Sieg und Niederlage,
Den holden Glanz versunkener Frühlingstage,
Die unerhörte Pracht der Welt des Scheines!
Des Sommers Fülle, alle Herrlichkeit,
Mit der dein schöner Pfad war benedeit!
Kunst und Natur und Spiel und Scherz,
Die Lust, die jauchzend überquoll,
Dein Bettleraug‘, von Tränen übervoll,
Dein Kinderlachen und den Mannesschmerz!
Und alles das, Erhab’nes, Großes, Kleines,
War einst ein Menschenleben und war deines!
Ja, hör‘, was heimlich Wissen dir verkündet:
Du schaust im allerletzten Augenblick,
Wenn Geistiges in seine Heimat mündet,
Noch einmal, wie es abrollt, dein Geschick,
Du schaust in der Sekunde des Hinüberschwebens
Den Film des eig’nen, wunderreichen Lebens!

Max Hayek

image: pixabay
Quellen:
♦ Siber, Stephan: „Max Hayek- Ein Wiener Schriftsteller, der zweimal Rudolph Steiner begegnete“; Schweizer Mitteilungen, I-2016, Seite 8 ff. (Die „Schweizer Mitteilungen“ sind das Publikationsorgan der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz)
♦  https://www.volkerkliem.de/das-leben-das-ich-selbst-gewaehlt-2/

(v.k.)